Ein netter Nachbar
Ein netter Nachbar
Wir hatten zum Einzug 1986 in der Hannemannstraße unseren Nachbarn kennen gelernt. Ein freundlicher älterer Herr, alleinlebend. Morgens gegen 4 Uhr war er schon aktiv und hat alle Gärten in der Nachbarschaft mit Wasser versorgt und auf den Wegen Laub geharkt und im Winter Schnee gefegt. Zum Dank habe ich mich um seinen Garten gekümmert.
Es dauerte einige Monate, dann boten wir uns das „Du“ an. Horst war eine gepflegte Person, immer im Oberhemd. Auf meine Frage „Wie kommt es, dass Du ständig saubere, gebügelte Oberhemden anhast?“ antwortete er „Ich kenne mehrere Frauen und die sind mir immer behilflich“.
Horst war auch ein Freund von Alkohol, aber nur Asbach. Eines späten abends, es war schon dunkel, erschien er bei mir im Garten. Er hatte schon etwas Schlagseite. Kurz vor der Terrasse kippte er in Richtung meines Teiches. Im letzten Moment konnte ich ihn auffangen. Es war sicher wieder ein Asbach-Abend.
Einige Zeit später vermissten wir Horst. Keiner seiner Bekannten wusste etwas über ihn. Wegen unserer Sorgen suchte ich seine Stammkneipe auf, um die Wirtin nach ihm zu fragen. Diese befand sich in der Pätzer Straße und hieß „Zum Doppelochsen“. Die Wirtin freute sich sehr über meine Nachfrage und erklärte mir: „Der Horst befindet sich seit zirka 14 Tagen im Krankenhaus Neukölln. Aber zweimal in der Woche erscheint er abends hier im Lokal. Er genehmigt sich einige Asbach und dann geht es zurück ins Krankenhaus. Machen Sie sich keine Sorgen, sein Nachbar kümmert sich um alles.“ Bloß, der Nachbar war ich! Als er wieder zu Hause war, gab es von mir einige Worte zu seinem Verhalten und gegenüber.
Weihnachten rückte immer näher und ich wusste, am Heiligabend-Vormittag erscheint Horst – und richtig: so war es. Horst stand vor der Tür mit einer Flasche „Asbach Privat“ in der Hand. Dieser Asbach war etwas Besonderes, er sagte mir auch gleich den Preis: 36 DM. Es vergingen die Monate bis zum nächsten Weihnachtsfest. Es war Heiligabend und Horst stand wieder vor der Tür. Es gab für mich wieder Asbach Privat und als zusätzliches Geschenk einige historische Waffen. Ich konnte damit zwar nichts anfangen, habe mich aber trotzdem laut gefreut.
Weitere zwölf Monate vergingen und in denen veränderte sich Horst sehr. Er war nicht mehr so korrekt gekleidet und leider nicht mehr so sauber. Heiligabend stand er wieder vor der Tür, wie gewohnt mit einer Flasche Asbach Privat und diesmal einem Segelschiff-Modell. Ich habe es immer noch.
Mit Horst wurde es immer schlimmer. Meine Frau und ich haben uns an seinen Hausarzt gewandt und um Hilfe gebeten. So kam es wie es kommen musste: ein Pflegedienst erschien. Horst fand das nicht so gut und fragte oft, was die vielen jungen Frauen alle bei ihm im Haus suchten. Es gab bei ihm auch nur noch Essen aus der Büchse. Eines Tages klingelte er und zeigte uns einen Kochtopf mit angebranntem Essen: „Schaut bitte einmal in den Topf. Was soll ich essen?“ Meine Frau bereitete ihm eine Pfanne Bratkartoffel mit Ei zu.
Es kam der Tag, der kommen musste. Horst wurde abgeholt. Er sah mich lange an und wir wussten beide, wir sehen uns nicht wieder.
Einige Wochen später rief uns der Bestatter an, teilte uns seinen Tod mit, dass es sich um ein Armenbegräbnis handelt und fragte, ob wir kommen würden. Wir sagten sofort zu. Rückblickend waren wir traurig, wie würdelos ein Menschenleben erlosch, zumal wir wussten, dass Horst finanziell abgesichert war.
Veröffentlichung: 23.12.2022
Text: Günter Reipert
Bilder: Michael Morsbach (Hannemannstraße), Hilmar Krüger (Doppelochse)